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Legasthenie im Beruf: Das unterschätzte Genie im Unternehmen

Peter Mörs | 29. Juli 2025

Andreas Starker

Hier geht’s zum Podcast-Interview mit Andreas Starker

„It’s a feature, not a bug“- Warum Legastheniker oft die besseren Problemlöser sind

In der heutigen Geschäftswelt jagen Unternehmen nach Innovation, Effizienz und dem entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Personalabteilungen optimieren ihre Auswahlprozesse, um die „qualifiziertesten“ Kandidaten zu finden – ein Prozess, der oft auf standardisierten Tests und der Überprüfung von Schulnoten beruht. Doch was, wenn genau dieser Ansatz dazu führt, dass die kreativsten und fähigsten Problemlöser durchs Raster fallen? Was, wenn ein als „Schwäche“ abgestempeltes Merkmal in Wahrheit eine Quelle außergewöhnlicher Talente ist? Die Rede ist von

Legasthenie – das unterschätzte Genie, das Ihr Unternehmen revolutionieren kann

Wir müssen aufhören, Legasthenie als Defizit zu betrachten, und anfangen, sie als Ausdruck besonderer Stärken zu begreifen. Es ist an der Zeit für einen radikalen Perspektivwechsel: von der defizitorientierten Frage „Was kann diese Person nicht?“ hin zur potenzialorientierten Frage „Wie können wir die einzigartigen Fähigkeiten dieses Individuums gewinnbringend für unser Unternehmen einsetzen?“

Dieser Artikel, basierend auf einem tiefgehenden Gespräch mit dem Legasthenie-Coach Andreas Starker, zeigt, warum Menschen mit Legasthenie nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer anderen Denkweise zu den wertvollsten Mitarbeitern gehören können, die Sie jemals einstellen werden.

Was Legasthenie wirklich ist: Jenseits der Mythen

Einer der hartnäckigsten Mythen ist die Gleichsetzung von Legasthenie mit mangelnder Intelligenz. Wenn jemand Schwierigkeiten beim lauten Vorlesen oder fehlerfreien Schreiben hat, wird dies oft unbewusst mit dem IQ in Verbindung gebracht. Dies ist ein fundamentaler Irrtum. Legasthenie ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eine andere Art, wie das Gehirn aufgebaut ist und Informationen verarbeitet. Es handelt sich um eine genetisch bedingte, neurobiologische Besonderheit, die ein Leben lang bestehen bleibt. Davon zu unterscheiden ist die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), die durch äußere Umstände wie traumatische Erlebnisse oder familiäre Krisen ausgelöst werden und auch wieder verschwinden kann.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert Legasthenie zwar unter dem ICD-10-Code als Störung, doch die Praxis zeigt ein Dilemma: Während Begleiterscheinungen wie Depressionen behandelt werden, wird die Ursache – die Legasthenie selbst – oft nicht von den Krankenkassen als behandlungsbedürftig anerkannt, es sei denn, es geht um eine Lerntherapie für Kinder.

Diese Stigmatisierung führt dazu, dass Betroffene während ihrer Entwicklung zehntausende negative Kommentare mehr erhalten als neurotypische Menschen. Die Folge ist oft eine Strategie des Versteckens und der permanenten Anstrengung, nicht aufzufallen. Doch was dabei im Verborgenen bleibt, sind die wahren Superkräfte.

Die verborgenen Stärken: „It’s a feature, not a bug“

Die besondere neuronale Verdrahtung von Menschen mit Legasthenie führt zur Ausprägung bemerkenswerter Fähigkeiten. Wo neurotypische Menschen linear denken – von A nach B nach C –, denken Legastheniker in Netzwerken und Bildern. Sie bringen Informationen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen und kreieren dadurch einzigartige Lösungen.

Zu den herausragenden Stärken gehören:

  • Ganzheitliches und strategisches Denken: Legastheniker erfassen komplexe Systeme oft intuitiv als Gesamtbild. Während andere noch die einzelnen Bäume analysieren, haben sie den ganzen Wald bereits verstanden und die beste Route hindurch gefunden. Der britische Geheimdienst stellt seit Jahrzehnten bewusst Legastheniker ein, weil sie viermal wahrscheinlicher als andere in der Lage sind, aus begrenzten Informationen treffsichere Zukunftsprognosen abzuleiten.
  • Hervorragende Problemlösungskompetenz: Fehler in komplexen Systemen zu finden, die andere übersehen, ist eine Paradedisziplin. Andreas Starker selbst nutzte diese Fähigkeit als Ingenieur für Schwachstellenanalysen. Diese Fähigkeit, „um die Ecke zu denken“, macht sie zu geborenen Innovatoren.
  • Dreidimensionales Vorstellungsvermögen: Viele Legastheniker können komplexe Maschinen oder Strukturen im Kopf auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Architekten, Ingenieure und Designer mit Legasthenie, wie der Schöpfer des Opernhauses in Sydney, nutzen diese Gabe, um bahnbrechende Entwürfe zu schaffen.

  • Hohe Empathie und emotionale Intelligenz: Menschen mit Legasthenie können oft exzellent „zwischen den Zeilen lesen“ und nonverbale Signale wahrnehmen. Diese Fähigkeit macht sie wertvoll in sozialen Berufen wie der Krankenpflege oder im Erzieherbereich, aber auch in Führungspositionen.

Die Liste berühmter und erfolgreicher Persönlichkeiten mit Legasthenie ist beeindruckend und untermauert diese Thesen: Albert Einstein, Steve Jobs, Henry Ford, Walt Disney, Steven Spielberg und Jamie Oliver sind nur einige Beispiele. Zwischen 35 und 40 Prozent der Selfmade-Millionäre sind Legastheniker. Angesichts dieser Zahlen muss man sich fragen: Sprechen wir hier wirklich über ein Defizit?

Der ungenutzte Vorteil für Arbeitgeber: Warum Sie umdenken müssen

Ein Unternehmen, das im Bewerbungsprozess unbewusst Legastheniker aussortiert, beraubt sich selbst eines riesigen Potenzials. Der Fokus auf fehlerfreie Anschreiben oder perfekte Noten ist überholt, denn es gibt keine Indizien dafür, dass schulische Leistungen mit dem späteren beruflichen Erfolg korrelieren. Ein Bewerber, der im Multiple-Choice-Test schlecht abschneidet, tut dies vielleicht nicht aus Unwissenheit, sondern weil sein Gehirn jede Antwortmöglichkeit simuliert und Kontexte findet, in denen auch andere Antworten richtig sein könnten – ein Zeichen für komplexes, vernetztes Denken.

Was bedeutet das konkret für Ihr Unternehmen?

  1. Innovation durch Diversität: Studien, unter anderem von SAP, belegen, dass neurodiverse Teams, in denen etwa ein detailorientierter Mitarbeiter aus dem autistischen Spektrum mit einem strategisch denkenden Legastheniker zusammenarbeitet, deutlich leistungsfähiger sind. Sie bringen messbar mehr Output und sind die wahren High-Performer. Die Boston Consulting Group fand heraus, dass Unternehmen mit überdurchschnittlich diversen Führungsteams um 19 Prozentpunkte höhere Innovationsumsätze erzielen.
  2. Die richtigen Leute für die richtigen Aufgaben: Setzen Sie einen Legastheniker an ein Fließband mit repetitiven Aufgaben, und seine Fehlerrate wird wahrscheinlich hoch sein. Geben Sie ihm jedoch die Aufgabe, genau diesen Prozess effizienter zu gestalten, wird er aufblühen und Ihnen massive Verbesserungen liefern. Es geht darum, den richtigen Kontext für die vorhandenen Stärken zu schaffen.
  3. Loyalität und Engagement: Mitarbeiter, die in einem Umfeld arbeiten, in dem sie ihre Stärken voll ausleben können, erbringen freiwillig 110 % Leistung und gewinnen dabei sogar noch Energie. Ein Arbeitgeber, der dies erkennt und fördert, schafft eine Bindung, die weit über das Finanzielle hinausgeht.

Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) betont in ihrer Inklusionsinitiative, dass die Vielfalt der Belegschaft eine entscheidende Ressource für die Wettbewerbsfähigkeit ist. Es geht darum, Barrieren abzubauen – nicht nur physische, sondern vor allem die in den Köpfen.

Ein neuer Weg im Recruiting: Worauf es wirklich ankommt

Wie können Sie als Arbeitgeber diesen Schatz heben? Und was können Bewerber mit Legasthenie tun, um ihre Stärken zu zeigen, ohne in die „Defizit-Falle“ zu tappen?

Für Arbeitgeber:

  • Fokus verlagern: Schauen Sie weniger auf formale Qualifikationen und mehr auf nachgewiesene Problemlösungskompetenz, Kreativität und Denkansätze. Stellen Sie Fragen, die zum Transferdenken anregen.
  • Kontext schaffen: Fragen Sie sich nicht, ob ein Kandidat passt, sondern wo er mit seinen spezifischen Fähigkeiten den größten Mehrwert schaffen kann.
  • Sprache ändern: Vermeiden Sie die defizitorientierte Sprache. Statt von „Schwächen“ zu sprechen, fragen Sie nach „Herausforderungen“ und den bereits entwickelten Lösungsstrategien dafür.

Für Bewerber mit Legasthenie:

Der Schlüssel liegt in der Selbstakzeptanz und einer klaren Strategie. Es geht nicht darum, die Legasthenie zu verstecken, sondern darum, das Narrativ zu kontrollieren.

  1. Stärken benennen: Anstatt das Wort „Legasthenie“ zu verwenden, das bei 97 % der Menschen negative Assoziationen weckt, können Sie Ihre Fähigkeiten umschreiben. Sagen Sie zum Beispiel: „Meine Stärke liegt darin, komplexe Zusammenhänge schnell zu erfassen und unkonventionelle Lösungen für schwierige Probleme zu finden. Ich bringe unterschiedliche Perspektiven zusammen, um das Gesamtbild zu sehen.“
  2. Herausforderungen managen: Seien Sie proaktiv. Sagen Sie: „Für das Verfassen von formellen Texten nutze ich konsequent moderne Tools zur Qualitätssicherung, damit ich meine volle Energie auf die inhaltliche und strategische Arbeit konzentrieren kann.“ KI-gestützte Programme wie ChatGPT sind hier ein entscheidender Vorteil, da sie die einst energiezehrende Fehlerkorrektur übernehmen.
  3. Selbstbewusstsein ausstrahlen: Wenn Sie selbst von Ihren Fähigkeiten überzeugt sind, können Sie auch andere überzeugen. Der entscheidende Moment ist, wenn Sie Legasthenie nicht mehr als etwas präsentieren, das es zu entschuldigen gilt, sondern als die Quelle Ihrer außergewöhnlichen Talente.

Wer unsicher ist, ob er betroffen ist, oder nach Wegen sucht, seine Stärken zu definieren, findet auf der Webseite von Andreas Starker wertvolle Ressourcen, darunter einen kostenlosen Online-Test, der eine erste Tendenz aufzeigen kann.

Vom Coaching zur Transformation: Was Andreas Starker konkret bewirkt

In der praktischen Arbeit mit Betroffenen setzt Andreas Starker auf ein Coaching-Modell, das Selbstbewusstsein, Selbstorganisation und Sprachbewusstsein gleichermaßen stärkt. Seine Website www.andreas-starker.de bietet detaillierte Einblicke in seine Programme, Erfahrungsberichte und die Philosophie dahinter.

Sein Ziel ist es, nicht nur den Betroffenen zu helfen, sondern auch ein Umdenken in der Gesellschaft und vor allem in Unternehmen anzustoßen.

Laut dem Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (BVL) sind etwa 4–8 % der Bevölkerung betroffen. Doch die Mehrheit erhält nie eine fundierte Diagnose – insbesondere Erwachsene im Berufsleben.

Laut einer Studie der Universität Würzburg (Prof. Schulte-Körne) empfinden sich viele Betroffene als „nicht leistungsfähig“, obwohl sie in der Praxis teils überdurchschnittlich gute Arbeitsergebnisse liefern.

Ein zentrales Problem ist das Stigma. Wird ein Rechtschreibfehler in einer Mail gemacht, entsteht bei Kollegen oder Führungskräften oft ein falscher Eindruck. Dabei wäre der Inhalt der Nachricht meist absolut kompetent und durchdacht.

Fazit: Die Zukunft gehört den Andersdenkenden

Der deutsche Mittelstand, so die Einschätzung im Podcast, hat dieses Potenzial größtenteils bislang nicht erkannt. Doch in einer Welt, die sich immer schneller verändert, sind es nicht die Konformen, die den Fortschritt vorantreiben. Es sind die kreativen, die vernetzt denkenden, die neurodiversen Köpfe. Legasthenie ist keine Einschränkung, die es zu managen gilt. Sie ist ein Betriebssystem mit einzigartigen Features, das im richtigen Umfeld eine überragende Performance liefert. Unternehmen, die das verstehen und ihre Recruiting-Prozesse entsprechend anpassen, werden nicht nur die loyalsten und innovativsten Mitarbeiter gewinnen, sondern sich auch den entscheidenden Vorteil für die Zukunft sichern. Es ist an der Zeit, die Suche nach dem „Normalo“ aufzugeben – denn den gibt es nicht. Die wahre Stärke liegt in der Vielfalt.